Digitalzwang ist Diskriminierung
Interview mit Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
Der Journalist und politische Publizist Heribert Prantl war bis 2019 Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und leitete über zwanzig Jahre lang die Ressorts „Innenpolitik“ und „Meinung".
Sie fordern, dass analoge Teilhabe am Leben den Rang eines Grundrechts bekommen soll. Warum?
Der zunehmende Digitalzwang belastet den kleinen und den großen Alltag. Er ist eine Diskriminierung der Handylosen, die sich ein Smartphone nicht leisten können oder wollen. Anträge bei Behörden und den Unternehmen der Daseinsvorsorge können immer öfter nur online gestellt werden. Immer mehr Dienstleistungen, von Terminbuchungen bis zum Kauf von Tickets für Museen, werden nur noch digital angeboten. Viele Banken führen Papierüberweisungen nur noch gegen eine Extragebühr aus. Parallel dazu ist das analoge Leben immer anstrengender geworden. Es ist oft erschreckend kundenunfreundlich. Es gibt immer weniger Ansprechpartner, man muss ewig Schlange stehen. Es kann und darf nicht sein, dass das Handy zum Grundrechts-Zugangsgerät geworden ist.
Wo sehen Sie die größten Probleme?
Wir reden ja viel von Inklusion und von Barrierefreiheit, also davon, dass die Menschen nicht ausgeschlossen werden dürfen. Das gilt auch in diesem Bereich. Wir müssen Diskriminierung vermeiden. Es geht nicht, dass man, um einigermaßen bequem Zug zu fahren, auf dem Handy den „DB-Navigator“ braucht. Es geht auch nicht, dass man sein Paket bei der Post nur noch dann abholen kann, wenn man auf dem Handy eine Post-App installiert hat.
Wer wird Ihrer Ansicht nach diskriminiert?
Es ist nicht nur ein Problem von älteren Menschen, die den Umgang mit digitalen Medien nicht gelernt haben. Es gibt auch Jüngere, die das nicht wollen. Digitalisierung, das bedeutet automatisch Überwachung, die Weitergabe unserer Daten. Und wer das nicht will, ist nicht automatisch ein Techniktrottel; im Gegenteil, er ist oft ein Technikkenner. Er weiß: Die Internet-Firmen, die Tracking-Firmen, sammeln die digitalen Spuren im Netz; und was dann mit den Daten passiert, das weiß keiner.
Der Verzicht auf das Digitale ist also nicht einfach eine Alters- oder Lifestyle-Frage. Es ist gerade bei Technikkennern der bewusste Verzicht auf eine Technik, die Überwachung beinhaltet. Es ist daher herablassend und zynisch zu sagen: Wenn die 80-Jährigen die digitale Welt nicht kapieren, dann ist das ihr Problem. Wir alle brauchen ein Recht auf Wahlfreiheit.
Wie könnte das aussehen?
In Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, also im Gleichheitssatz, könnte man gut noch einen Satz ergänzen: „Die Grund- und Daseinsvorsorge für einen Menschen darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass er digitale Angebote nutzt.“ Das ist wichtig. Ich muss als Demokrat mit Behörden gut und unkompliziert verkehren können, ohne gezwungen zu sein, das Internet in Anspruch zu nehmen. Das ist keine Kleinigkeit, über die man sich lustig machen kann. Ich halte es für demokratiegefährdend, wenn ich nicht die Wahlfreiheit habe.
Was können Ihrer Ansicht nach die Menschen tun, die ihr Recht auf ein analoges Leben verteidigen wollen?
Sie müssen ihren Abgeordneten sagen: Das geht so nicht. Sie sollen sich nicht scheu und schamhaft verstecken, weil sie die Technik nicht wollen oder nicht beherrschen. Der Vorschlag, das Grundgesetz zu ändern, ist keine Spinnerei. Wenn es ein Grundrecht auf ein analoges Leben gibt, dann hat jeder einen Rechtsanspruch, den er durchsetzen kann. Staat und Wirtschaft müssen sich an dieses Grundrecht halten.
Ein Aufstand der Analogen ist notwendig, um der Politik klar zu machen: Das ist ein grundlegendes Problem der Gesellschaft. Das betrifft nicht nur Ältere, und das ist auch kein Nebenbei-Problem, das sich irgendwann von alleine löst. Das ist ein Problem, auf das der Gesetzgeber Einfluss nehmen kann – und muss. Es geht um Freiheit – und zur Freiheit gehört die Wahlfreiheit zwischen einem digitalen und einem analogen Leben.
Interview: Katja Nellissen, BAGSO